InnenZeit

Das wöchentliche CoronEssay von Christian Wetschka

Geschrieben von Christian Wetschka

26. April 2020

(m)EINBLICK – CWs Kolumne

Der 30. Mensch.

InnenZeit Das wöchentliche CoronEssay von Christian WetschkaDie Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen…...

Vom Sinn des Feierns

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Eine Zeit, die im Vorübergehen so leicht und zahlreich Helden und Heldinnen produziert, schafft auch zahllose Opfer, nur bleiben die Opfer meist unsichtbar. Während die Helden und Heldinnen auf Podeste gehievt werden, manche sich geschickt selber auf die medialen Podeste schwingen (und manche dort gar nicht mehr weg gehen …), bleiben die Opfer in den Hinterzimmern, auf den Straßen und Parkbänken (wo sie nicht sitzen oder gar schlafen dürfen), in den Pflegeheimen (wo sie nicht besucht werden dürfen)… Eine Gesellschaft, die ständig neue Helden braucht, versucht sich die Welt mit einfachen Mitteln übersichtlicher zu machen.

Mit der „Idee“ des Helden und der Heldin muss vorsichtig umgegangen werden – und selbstkritisch. Nachdem ich in meinem Leben schon viele Helden „gebraucht“ habe, habe ich mit diesem Thema schon einige Erfahrung. Die erste Frage, die ich mir beim aufkeimenden Bedürfnis, jemanden auf ein Podest zu stellen, vorlegen möchte, lautet stets: Wofür brauche ICH ihn/sie? Wofür in meinem Seelenleben steht dieser Held, diese Heldin? Für welches Bedürfnis? Für welche Bedürftigkeit in mir?

Papst Franziskus ist in einem Interview auf diese Frage eingegangen und hat, mehr als bemerkenswert für einen Papst, sogar Sigmund Freud bemüht; es lohnt sich, diesen Gedanken weiterzudenken. Er sagt:

„Mir gefallen die ideologischen Interpretationen nicht, ein gewisser Papst-Franziskus-Mythos. Wenn man zum Beispiel sagt, ich gehe nachts aus dem Vatikan, um den Obdachlosen in der Via Ottaviano zu essen zu bringen. Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Sigmund Freud sagte einmal, wenn ich mich nicht täusche, dass sich in jeder Idealisierung auch eine Aggression versteckt. Den Papst als eine Art Superman zu zeichnen, eine Art Star, scheint mir beleidigend. Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle. Ein normaler Mensch.“ (Corriere della sera 5. 3. 2014)

Ich versuche also ohne Helden auszukommen. Heute mache ich bewusst eine Ausnahme (genaugenommen sogar drei)…

 Schon am Anfang der Corona-Zeit war Ernstl ein ernstzunehmender Kandidat für eine Heldentrophäe. Auf einmal stand er da ohne Essen und ohne Geld, weil er es gewohnt war (und ist), sich durch Besuche in verschiedenen Ausspeisungsstellen sein Leben zu erhalten. Mit dem Corona-Shutdown Mitte März hatten viele dieser Tageszentren geschlossen oder man wusste nicht, ob und wann sie wieder aufsperren. Von einem Tag auf den anderen war zunächst einmal alles zu. Es war gar nicht so einfach in der sofort einsetzenden Einkaufshysterie ein paar Dosen für ihn zu ergattern. Eine Klage über seinen unverschuldeten Engpass kam von ihm nicht. Vielleicht weil er sein ganzes Leben gewohnt ist, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Mit der Eröffnung der „Gartensaison“ kommt er nun regelmäßig in die Mentergasse. Ernstl gehört auch in diesem Jahr wieder zu unserem Gartenteam, das sich nun wieder herausgebildet hat, damit der Garten sich auch in diesem extrem trockenen Frühjahr wieder zu einem Lebensort entfalten kann, der vielen Menschen in den nächsten Monaten dient. Er bringt mich mit seinen immer wieder neuen selbstgebastelten originellen Masken oft zum Lachen, doch zum Staunen bringt er mich regelmäßig, wenn ich mit ihm im Freien arbeite. Mit seinen 70 Jahren kann er stundenlang am Komposthaufen stehen und Humus schaufeln und reitern. Mit Vorliebe gräbt er unter Aufbietung größter Hartnäckigkeit die alten Wurzeln aus, um Platz für neue Pflanzen zu schaffen. Hingebungsvoll mäht den Rasen mit seiner eigenen Technik und gießt die Pflanzenkinder, von denen er viele selbst eingesetzt hat. Von ihm geht eine lebensfreundliche Weisheit aus.

Ein anderer guter Geist dieser Tage ist Radi, der seit 15 Jahren auf der Straße lebt, ohne Einkommen, ohne Versicherung, oft kränkelnd, vor allem die häufigen Zahnschmerzen setzen ihm zu, hält sich mit kleinen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. In einer Pfarre kann er sich normalerweise mit dem wöchentlichen Kirchenputz ein paar Euro verdienen, am Schedifkaplatz hilft er nach der Messe beim Saalreinigen. Sein fragiles über die Jahre mühsam aufgebautes Selbsterhaltungssystem löste sich im Corona-Nebel von einem Augenblick auf den anderen auf. Ohne einen Groschen Geld stand er da. Nichts zum Essen, keine Schmerzmedikamente, nichts zum Rauchen, keinen Zugang zu den Stellen, wo er im Notfall doch immer wieder Unterstützung bekam. Erst nach einigen Wochen fand er, der ja die meisten Distanzen ohne öffentliche Verkehrswege zurücklegt, endlich wieder den Weg in die Mentergasse, wollte nur mal schauen, ob es uns noch irgendwie gibt und wann die Messe am Schedifkaplatz wieder anfängt. Abgemagerter als sonst bog er mit seinem dicht gepackten Rucksack um die Ecke, als wir gerade am Donnerstag die Jausenpakete austeilten. Dass wir gerade dringend jemanden für den Putz des Stiegenhauses brauchten, konnte er nicht wissen. Er kam wie gerufen. Sofort schnappte er sich Wischmopp und Kübel und legte mit Eifer los. Vor lauter Freude an der Arbeit wollte er gar nicht mehr aufhören. Nach den Stiegen und den Gängen, wusch er auch noch alle Böden in unseren Büroräumen auf, erst nach 7 Stunden legte er die Putzgeräte mit einem zufriedenen Lächeln aus der Hand. „Nächste Woche wieder?“ fragt er mich in seinem Kauderwelsch, ehe wir uns verabschieden. „Ja, nächste Woche wieder!“

In der Corona-Zeit erreichen mich viele Anrufe und Nachrichten, auch von Menschen, die sich schon länger nicht gemeldet haben. Beinahe hätte ich Michis Nachricht Ende März übersehen. Zunächst war es nur ein erbaulich-liebliches Bild, das er mir mit Whatsapp schickte: der Blick aus einer dunklen Höhle hinaus in eine vom Licht erhellte Landschaft, unterlegt mit einem frommen Lied. Ich dachte nur: ein netter Gruß vor Ostern. Einige Stunden später folgte eine kurze Nachricht: „Werde am Mittwoch wegen eines Zungengrundtumors operiert, bitte nehmt mich in ein Gebet auf.“
Zwei Tage davor, so erzählt er mir beim Rückruf, wurde er vom HNO-Arzt ins Spital geschickt. Dann ging es Schlag auf Schlag. „Am Mittwoch zwischen 9 und 10 komm ich dran.“
Wir telefonieren einmal noch, denn nach der Operation würde Michi nicht mehr sprechen können.
Nach der ersten Operation wird sofort eine zweite, massivere nötig, – „Er ist bösartig“ schreibt er. Diesmal wird er von außen aufgeschnitten, muss über ein Tracheostoma beatmet und künstlich ernährt werden.
Ein Umsturz, ein Zusammenbruch, muss man sagen. Plötzlich klopft der Tod an. Skalpelle schneiden dir in den Hals, in den Kiefer. Du kannst nicht mehr reden. Keine Stimme. Niemand darf an deiner Seite sein. Vollkommen allein bist du im Getriebe eines riesigen Spitals. Du weißt nicht, wie’s weitergeht. Rundherum regiert das Corona-Thema.

Kurz nach dem zweiten Eingriff erhalte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen „Video-Anruf“ am Handy – von Michi. Mit einem mulmigen Gefühl hebe ich ab. Was rede ich mit einem Menschen, der nicht reden kann? Wird er meine Ratlosigkeit am Bildschirm erkennen? Michi zeigt mir wortlos die Narben am Hals, das aus der Luftröhre herausragende Tracheostoma, die Kanüle für die künstliche Ernährung. Während er mit mir „videofoniert“ geht er im Spital den leeren Gang auf und ab und lächelt mir auf dem Handy-Bildschirm entgegen. Sein entspannter Gesichtsausdruck hat nichts Gequältes, sondern vermittelt ungetrübte Zuversicht. Immer wieder tippt er beim Gehen flott Antworten auf meine Fragen ins Handy: „Aufgeben tut man nur einen Brief.“ In dieser durch die schmerzliche Sprachlosigkeit durchschimmernde Einwilligung ins Schicksal erahne ich das Ja eines Menschen, der lange kein Zuhause hatte und schon so vieles überstehen musste.

Innerhalb von wenigen Tagen hat sich das Leben von Ernstl, Radi und Michi radikal verändert. Das Haus ihres Lebens wurde in den Grundfesten erschüttert. Für sie wird es keine Kurzarbeit geben, kein Konjunkturpaket, keine Auftritte im Fernsehen, ihnen singt keiner Hymnen von Balkonen, auch nicht die Polizei (eher im Gegenteil: Radi hat vor ein paar Tage eine Polizeistrafe ausgefasst). Sie erheben keinen Anspruch, Helden zu sein. (Es würde ihnen auch nichts helfen). Sie meistern ihr Leben, indem sie das Beste aus dem machen, was sie haben und können. Sie sind Freunde des Lebens. – Mehr als sonst bin ich in diesen Tagen froh, dass es sie in meinem Leben gibt und ich in ihnen das Licht erkennen kann…

Krachend fällt der Baum.
Still wächst der Wald.