Vom Aufrichten

Geschrieben von Tomas Kaupeny
5. Sonntag im Jahreskreis
Mk 1, 29 – 39
Zum Geleit
Wort zum Sonntag

Als mich am Dienstag, am 2. Februar, spät in der Nacht die Botschaft ereilte `Ab kommenden Sonntag allgemeine Gottesdienstfeier in Kirchen wieder möglich.´ , na, das war vielleicht eine Überraschung! Ein alle düsteren Prophezeiungen sprengender Maria-Lichtmess-Gruß und Blasius-Segen in einem – `Und sie bewegt sich doch…´
Da die mittlerweile schon gewohnte schriftliche Predigt bereits zur Hälfte gediehen war, kommt sie nun einmal noch zu Dir.
Für Sonntag sind alle nun wieder in unser weitläufiges Ausweichquartier `Altlerchenfeld´ um 18 Uhr zur gemeinsamen Feier willkommen. Freilich müss´ ma uns halt alle bemühen: Handdesinfektion, FFP2-Maskenpflicht und in den Kirchenbänken die 2 Meter Abstand zwischen Menschen, die nicht im selben Haushalt leben.
Wir haben schon so viel geschafft miteinand´, mit Gottes Hilfe werden wir auch diese Zeit meistern – und was draus lernen.
Zur Einstimmung:
Nobody knows, Golden Gate Quartett
Evangelium des 5. Sonntags im Jahreskreis
Mk 1, 29 – 39
Sie verließen sogleich die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen. Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu sagen, dass sie wussten, wer er war. In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, verkündete in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus.
Vom Aufrichten
Und gleich nach dem Gottesdienst ging Jesus mit Jakobus und Johannes ins Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon aber lag fiebernd darnieder. Und sie sprachen mit Jesus über sie…
`Einkehren´, Frühschoppen – oder sowas ähnliches?
Unvergesslich ist mir Franz Legradis Interpretation dieser kleinen Szene. Den Franz hat´s damals irgendwie ins Jugendhaus der Caritas verschlagen, obwohl er schon ein älterer Mann war. Ein Wiener Original vom Scheitel bis zur Sohle, mit allen Wassern gewaschen, Schleichhandel mit Waren aller Art – allerdings: auch von den wildesten und frechsten Jugendlichen geachtet, oft um Rat gefragt, ja: bewundert, – weil sie sein weites, gutes Herz hinter der rauen Schale spürten !

Nachdem ich das Evangelium vorgetragen hatte, meldete sich besagter Franz augenblicklich zu Wort: „So – und jetzt sog i eich amoi was dazua“ – mit diesen Worten leitete er meist seine lichtvollen Ausführungen ein – „Oiso, i kann´s wirkli guat varsteh´n, die odrahde Oide!“ sagt Franz und nickt nachdenklich. „Wäu de dengt si: erst hoit´ der söbst ernannte Wanderprediga de Buam von der Oabeit ab, dann woi´n sa se bei uns daham a bissl g´miadlich einnisten und wahrscheinli a guat´s Papperl a no dazua… Na leiwand! Und am End´ soit i mi vielleicht a no hinstölln und: `Derf´s grad no was sein, der Herr, auf wos hätt´ ma denn no an Gusto?´ fragen. `Owa sicher ned. Nein. Nein, – na wirkli ned! Ned mit mir. Soll´n schaun, wie´s weidakummen, de Gfraster, de ausg´schamten.´ Und – legt sich mit Fieber ins Bett. Na ja – dem Simon und dem Andreas is des jetzt natürlich a bisserl sehr peinlich, oiso klären´s ´n Jesus übern Charakta, de Situation und des klane raffinierte Manöver von der Schwiegermuatter auf. Na, und was macht der? Geht glei´ schnurstracks hin zu ihr: `Ja, Grüß Sie Gott, die Gnädigste, wie geht´s denn oiweil so? Wird´s schö langsam a bisserl leichter?´ Und er nimmt´s beim Handerl, streichelt´s: `Ham´ S´as a oft schwer, gö, die ganze Bagage irgendwie z´amhalten. I kann Ihna guat verstehn…´ Da schmilzt die Oide dahin und – augenblicklich sinkt das Fieber! – und – sie tischt auf, was das Zeug hoit, für die hungrige Meute.“
Soweit die Interpretation des unvergesslichen Franz Legradi: persönlich, lebendig, einfühlsam – seine unverblümte Sicht auf Dinge, Begegnungen und Geschehnisse. Sein Sich-Hineinhorchen, Einfühlen in die handelnden Personen: Zwischen den Zeilen Lesen…
Da ging er zu ihr hin, fasste sie an der Hand und richtete sie auf.

Ich hab die Kleine Schwester Janine einmal bezüglich einer eisig verhärteten Konfliktsituation um ein Gespräch gebeten. Nachdem ich ihr Entstehung, Hergang, Steigerung der Untergriffigkeiten und schließlich die absolute Funkstille – Totenstille – in Kurzform geschildert hatte, bat ich: „Was kann, was soll ich tun? Kann ich, soll ich überhaupt was tun?“ Klar und freundlich blickt sie mich an, durch meine Ausführungen nicht im mindesten irritiert. Dann sagt sie leise: „Tomas, öffne Deine Hand.“
Nun erst wird mir bewusst, dass die rechte Hand, die auf dem Tisch ruht, zur Faust geballt ist, während die linke, seitlich scheinbar locker runterhängend, nervös krampfhaft die Fingernägel bis zur Schmerzgrenze in die Handinnenflächen gräbt.
Was hat sie g´sagt? `Öffne Deine Hand?!´ Irritiert, verstört konzentrier ich mich drauf und – seltsam: in dem Maß, wie die Finger aufgehen, löst sich irgendwas in mir, beginnt zu fließen. Jeannine legt nun ganz sanft ihre kleine, abgearbeitete Hand in die meine. Wie gut das tut. „Brauchst keine Angst haben,“ sagt sie.
Übrigens: der erwähnte Konflikt hat sich trotzdem leider nie mehr ganz bereinigen lassen. Zu tief waren anscheinend die Wunden und schlechten Vernarbungen. Aber immerhin: ehrliche gegenseitige Achtung in der Begegnung und ein beidseitig spürbares Bemühen war wieder da, und: dann und wann, zaghaft keimendes Vertrauen…
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
Dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an Deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehen: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehen: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gib mir die Hand.
(R.M. Rilke)
Ferry, ein wunderbarer Arzt, hat mir einmal versichert, er hätte noch nie einen Patienten `behandelt´, ohne ihm vorher zur Begrüßung die Hand zu reichen:
„Weißt Du,“ hat er erklärt, „ach, – so viel zu erzählen weiß die Hand eines Menschen, – wenn Du´s hören willst – einmal ganz abgesehen davon, dass sie mich augenblicklich über Körpertemperatur, Pulsschlag, Aufregung, Angst oder Zutrauen des Patienten in Kenntnis setzt…“
Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und von Abergeistern Gequälten zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt und er heilte viele…
Es ist diese Stunde nach Sonnenuntergang, nach der sich im Orient alle sehnen, auf die alle warten: die grelle Gluthitze ist vorüber, von den Bergen runter weht ein erfrischendes Lüfterl. Es gibt nun viele schattige Platzln, und der weite Himmel verschenkt ein sanftes, mildes Licht. Ein gütiges Licht. Manchmal auch leuchten Wolkengebirge aquarellfarben auf. Und genau in diese Stunde hinein bricht auf einmal ein Ansturm himmelschreiender Not los: auf Tragbahren und am Rücken geschleppt, mit Krückstöcken humpelnd. Fliegenschwärme um nur notdürftig verbunden, schwärende Wunden, fleckig verschmutzte Bandagen. Ein Keuchen, Stöhnen, Röcheln, Wimmern da und dort. Verhaltene Aufschreie. In all dem freilich auch – Gott sei Dank – zigfach heiliges Zeichen schlichter gegenseitiger Hilfestellung: wie sie einander führen, tragen, weiterschleppen. Ermutigen, trösten. Verbände erneuern, Tränen trocknen. Schluckweise Wasser reichen, geduldig kleine Bissen füttern… Eine Woge der Hilfsbereitschaft rollt über ein Meer von abgrundtief seelischem und körperlichem Leiden. Jesus mitten drin. Wie er sich jedem einzelnen zuwendet, – unendlich heilsam. Wie er die Lästerstimmen und Abergeister zum Schweigen bringt, beruhigt: ein Innerstes wird von seiner Stimme erweckt, von leisem Wort berührt, in seiner Hand geborgen. Das Herz erwärmend.

Nach der Christmette der Caritasgemeinde bin ich über zwanzig Mal, direkt anschließend ans `Stille Nacht´, mit Kardinal Schönborn hinten beim Ausgang gestanden, um die Leute persönlich zu verabschieden. Er links, ich rechts. Und jedes Mal hab ich gestaunt über das, was ich da zwischendrin so aus dem Augenwinkel mitbekommen oder mit einem Ohr aufgeschnappt hab: wie tief sich dieser große Mann hinunterbeugt, sich jedem einzelnen, oft auch in Erinnerung eines Namens, zuwendet in persönlichen Fragen und Worten: ein Segen. Manche Leute umarmen ihn
ungeniert überschwänglich und busseln ihn ab. Andere werfen sich auf die Knie. Einzelne meinen, etwas ganz besonders Originelles, Witziges sagen zu müssen, über das sie dann selber am lautesten lachen. Kinder staunen den großen Nikolaus mit offenem Mund an. Manchmal fallen ihm offenbar im Flackerlicht glitzernden Tränen auf, die da still über eine Wange rinnen. Zärtlich wischt er sie mit dem Finger ab, bevor er mit einem guten Wort das Kreuzzeichen auf jene Stirn zeichnet. Ein treuer Diener seines Herrn…
In aller Früh, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten… Simon und seine Gefährten spürten ihm nach, und als sie ihn gefunden hatten, sagten sie: „Alle suchen Dich.“ Er aber antwortete: „Lasst uns jetzt anderswo hingehen, in die benachbarten Dörfer…“
`Alles hat seine Zeit´ – singen wir oft miteinand. Nun, Jesus nahm sich Zeit. Für jeden einzelnen die Zeit, die´s eben braucht, bei ihm auszuharren – und er spürte, wann´s Zeit ist zum Weitergehen. Die Zeit für Schlafengehen und Nachtruhe und die Zeit – in aller Herrgott´s Früh – zum Aufstehen! Die Zeit für´s Gebet und die Zeit zum Aufbruch, zum Weiterziehen… Heiliges Zeitwunder: Was hat´s g´schlagen? Was ist jetzt ang´sagt? Das Gebot der Stunde…?
Das Geheimnis der währenden Stunde… Er hat´s erhorcht, erspürt, erfahren, durchlitten. Beispielhaft vorgelebt.

Ein 90-jähriger alter Mann erzählt: „Wir waren neun Kinder auf dem kleinen Bauernhof. Die Mutter alleinerziehend seit dem Krieg… Freilich: a jed´s von uns muss da von klein auf im Rahmen seiner Möglichkeiten mithelfen. Aber: heut´ frag ich mich schon: wie is´n das ´gangen? Wie hat´n die Mutter das g´schafft?
Es gab keinen Kühlschrank, nur den Keller und die Speis. Keinen G´schirrspüler, keinen Gas- oder E-Herd – bloß Holz schneiden, hacken, spalten. Der einzige Ofen ist zugleich der Herd. Keine Waschmaschine, sondern Zuber, Waschrumpel und rote Händ´. Weder Mixer noch Mikrowelle oder Tiefkühltruhe. Weder Hipp-Gläser noch Pampers, Dosen oder Fertigmenüs, keine Badewanne und keine Dusche. Es gab den Hausbrunn. Wir hatten keinen Traktor, nur zwei brave Zugochsen. Die ganze landwirtschaftliche Arbeit musste händisch erfolgen, und, und, und…
Wenn aber ein Bettler angeklopft hat, gab´s immer ein Stück Brot für ihn und einen kräftigen Schluck Most. Und wenn die Frau Nachbarin vor der Tür stand, gab´s immer eine Einladung rüber in die Küche auf einen Tratsch mit Malzkaffee und irgendwas zum Einbröckln dazu.“
Lange erzählte der Alte so weiter. Dann schloss er mit den Worten: „Wir hatten wenig, aber es reichte, denn wir hatten einander. Und hatten einander lieb. Und die Mutter hat immer Zeit g´habt. Und wenn ich an die vielen Erleichterungen denke, derer wir uns heut´ erfreulicher Weise alltäglich bedienen, mein´ ich im Hinblick auf meine gute Mutter: wir müssten ja doch wahrlich endlos Zeit haben?! Aber – das Gegenteil ist der Fall: `Tut mir leid. Keine Zeit!´ Weißt, – und da frag ich mich dann schon: Ja, wo ist denn die Zeit hingekommen. Wann und wo haben wir sie vergeudet, verschwendet, verloren oder totgeschlagen? Hat uns wer die Zeit gestohlen? Werden wir sie wiederfinden?“
Meine Lieben!
Für eure vielen Briefe, Karten, Kinderzeichnungen und Gebete sag ich auf diesem Weg noch einmal innig Danke und Vergelt´s Gott !
À propos: Liebe Kinder, liebe Jugend !
Von Eurem Besuch, bzw. von den vielen persönlichen Briefen, den verzierten Briefkuverts und beigelegten Ausmalbildern sind viele betagte, kranke und pflegebedürftige Menschen nach wie vor so berührt, dass sie mir´s, wenn ich komm, gleich als erstes begeistert erzählen! Eure Mühe und Sorgfalt hat sich hundertfach ausgezahlt, Eure Botschaft ist angekommen: alten, kranken, einsamen Menschen ein stiller, reicher Segen, – gibt´s was Schöneres?
Die in den Räumlichkeiten der Mentergasse so liebevoll zusammengestellte Sammlung `Krippen aus aller Welt´ und der schlicht einladende Weihnachtsschmuck ist mit Maria Lichtmess – früher das Ende der Weihnachtszeit – wieder ins Depot übersiedelt. Der 4 Meter hohe Christbaum, der kaum genadelt hat, ist abgeräumt, zersägt und biologisch entsorgt weitergewandert. Alles picobello ! Ich danke Euch, Ihr guten Geister, ahn´ ich doch ein wenig die Riesen-Müh und Plag dahinter…
`Von guten Mächten wunderbar geborgen…´
Von Herzen
Euer Tomas