InnenZeit
Das wöchentliche CoronEssay von Christian Wetschka
Die Mentergasse.

von Christian Wetschka
InnenZeit
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Im Zwielicht dieser Tage zeigt die Welt ständig andere Gesichter. Wir wundern uns, was alles geht… Doch gerade durch die Verschiebungen und Veränderungen, sehen wir auch deutlicher, was uns trägt und uns zusammenhalten lässt. Auch die Orte, die uns leben lassen, offenbaren sich auf neue Weise. Die Lebensräume. Die „Mentergasse“ ist so ein Lebensraum in meinem Leben und im Leben vieler Menschen. Das „Quartier“ der Caritasgemeinde nennt es Tomas manchmal. Auch „Zentrum“ war ein Begriff, der einmal im Raum stand. „Büro“ hätte es heißen können oder „Treffpunkt“, aber es ist schlicht bei „Mentergasse“ geblieben, und das ist auch stimmig, denn dieses Haus verträgt gar keine nähere Bestimmung: es soll offen sein für viele und für vieles. Und das ist es auch. „Wir treffen uns in der Mentergasse.“
In diesen Corona-Tagen gehen die Türen in der Mentergasse nicht so oft, der Boden knarrt kaum noch, die Kaffeekanne in der Küche wird seltener leer und der Geschirrspüler langsamer voll. Die Waschmaschine läuft oft eine ganze Woche nicht. Am Mittwoch keine Bibelrunde, am Donnerstag keine Kleiderausgabe, am Samstag keine Jugendtreffen. Wenige schneien einfach herein, nur das Telefon läutet an manchen Tagen öfter. Mit dem vertrauten Straßenlärm von der Lerchenfelderstraße, der uns sonst unaufgeregt daran erinnert, dass draußen das Leben weitergeht, fehlt die Filmmusik im Hintergrund. Der Lebensfluss ist unterbrochen.
Seit April 2003 sind wir dort, wir, die Caritasgemeinde (die ja noch viel schwerer zu definieren ist). Nach den Jahren, in denen wir unser Büro in der Gfrornergasse (im Vinzenzhaus) hatten, waren wir einige Monate obdachlos (keine schlechte Schule!). Tomas und ich trafen uns damals im Kaffeehaus. Norbert Partl von der Pfarrcaritas fand dann diese leerstehende Pfarrerswohnung auf 200 Quadratmetern in der Mentergasse. Der uralte Parkettboden knarrte bedenklich, die Fensterrahmen zerbröselten bedrohlich, der Kristallluster im großen Raum wirkte beim ersten Rundgang befremdlich, das klassizistische Pfarrhaus mit unverkennbaren Anzeichen des voranschreitenden Verfalls – noch dazu gegenüber von der imposanten drittgrößten Kirche Wiens, war gewöhnungsbedürftig. Der vertrocknete und stark verschattete Garten war geradezu gruselig. Sollte das wirklich der Ort, an dem wir zuhause sein konnten? Vielleicht war es ein Glück, dass wir damals noch nicht so genau wussten, was die Caritasgemeinde in den darauffolgenden Jahren werden sollte und was sie brauchte; wir waren offen, neugierig und alles war ein „work in progress“, ein offener Prozess. Und ist es auch geblieben bis heute. Und die Mentergasse? Sie steht für vieles. Sie ist ein Prinzip.
Mein übliches „Mentergassen“-Gefühl, wenn ich mich dem Haus nähere: rechne mit Überraschungen! Und mit vielen Menschen! Du gehst nicht einfach hin und setzt dich an den Schreibtisch und kannst arbeiten, nein, jederzeit kann jemand bei der Tür hineinschneien und der Raum füllt sich mit 17 Problemen, und schon bist du mittendrin: in der Lebensschule Mentergasse. Der Mensch ist wichtiger als die Dinge. Nicht immer leicht einzuhalten, aber das ist unser Stil.
Die Aufteilung der Räume tut das Ihre: wir arbeiten teilweise in auf den ersten Blick unpraktischen Durchgangsräumen. Wer ins große Büro will, muss bis zu vier Räume durchqueren. Man kann sich also nur schwer verstecken, nur schwer zurückziehen. Begegnung ist vorprogrammiert. Außerdem passiert hier fast immer mehreres gleichzeitig. In der Küche wird gekocht, während Henriette schon die Kleiderausgabe vorbereitet. Im Garten wird die Sitzgarnitur gestrichen, während in den Pfarrräumen im Erdgeschoß die Donnerstagsjause im Gang ist. Die Bibelrunde tagt im großen Raum, während Hanni in der Küche Spenden entgegennimmt. Dass die Ostereier in der Küche gefärbt werden, während der Osterchor probt, ist schon Standard. Es gab schon Mitarbeiterjausen in der Kleiderkammer, weil in allen anderen Räumen irgendetwas anderes los war. Ja, und die Musik! Es vergeht keine Woche, an dem nicht irgendwer irgendetwas probt, mein zeitweiliges Klaviergeklimper eingeschlossen. Die ständig bereiten Notenständer und Kisten mit Noten sind nur für den Mentergassen-Anfänger irritierend. Die Schachteln mit den aus der Druckerei kommenden neuen Zusammenhängen hingegen haben wir nur vier Mal im Jahr. Die Kalenderberge, die die Caritasgemeinde für die Justizanstalt sammelt, stapeln sich aber immerhin von Dezember bis März. Die sind aber eigentlich gar nichts gegen die Säcke mit Kleiderspenden im Vorraum. Work in progress, und davon ziemlich viel.
In keinem anderen Raum wird der bis ins Bedrängende hineinreichende Begegnungscharakter der Mentergasse so sichtbar wie im Stefan-Tomas-EDV-Büro, in dem drei sehr komplexe Arbeitsplätze zusammenkommen: der Bereich unseres Pastoralassistenten Stefan, die Schreibtisch-Ecke von Tomas, unserem Chef, und die alles überstrahlende Regal- und Schreibtisch-Sphäre unserer beiden EDV-Ehrenamtlichen Andreas und Gregor, die uns in den letzten Jahren ein eigenes Netzwerk samt Firewall, Datenservern und einem eigenen Sicherheitskonzept gebaut haben (und dieses auch perfekt betreuen). Irgendwie geht sich alles in einem Raum aus. Man findet sich. Auch das ist ein Mentergassenprinzip.
Die Küche ist das Reich der Hanni. Jede Lade, jedes Fach, jedes Kastl hat ihre Aufmerksamkeit. Der Boden muss sauber sein, das Geschirr soll immer weggeräumt sein, der Raum muss einladend wirken. Denn hier sitzen Menschen beisammen, hier wird gekocht, geredet, gegessen. Hier hat sich schon manches Herz geöffnet. Dass die Küche oft das Herz der Wohnung ist, weil er sowohl Arbeits- als auch Entspannungsort ist, ist altbekannt. Aber es braucht auch die Menschen, die diesen Raum in diesem Sinn pflegen und nutzen. Und die finden sich hier zuverlässig ein.
Direkt hinter der Küche liegt das Depot, die bestens sortierte „Kleiderkammer“, zweifellos ein Herzstück der Mentergasse, und wieder ein Lebensprinzip: denn sie zieht gleichzeitig Spender, Mitarbeiterinnen und viele bedürftige Abnehmer an. Hier treffen sich Menschen, die geben wollen (und können) mit denen, die etwas brauchen. Hier trifft Bedürftigkeit auf Mitgefühl. Sehr direkt, sehr konkret, sehr unkompliziert. Hier wird allwöchentlich sichtbar, was die Mentergasse „kann“: hier muss sich unser Ideal vom „mitmenschlichen, respektvollen Umgang“ beweisen. Und das tut es auch. Ich glaube, daran sind wir noch nie gescheitert.
Die auffälligste Verwandlung der Mentergasse – und das ist vielleicht jenes Prinzip, das über allen steht: Verwandlung – findet alljährlich zu Weihnachten statt. Wir feiern ein großes Weihnachtsfest. Der Christbaumhändler aus dem Waldviertel, Herr Greßl, bringt alljährlich den mindestens vier Meter hohen Baum, der im großen Raum seinen fixen Platz hat, so ausladend meist, dass ihn einer allein nicht schmücken kann. Alle Stiegengeländer sind mit eigens dafür gebastelten Gestecken geschmückt (44 Stück). Im Vorraum hängt ein Sternenhimmel aus Papier. Unten im Foyer steht der Begrüßungsweihnachtsbaum. Beim unteren Fenster steht die erste Krippe als Vorbote, für das was sich oben tut:über alle Räume erstreckt sich unsere kleine Ausstellung von Krippen aus aller Welt: Afrika, Mexiko, Peru, Aserbaidschan,… Der Höhepunkt unserer Ausstellung aber: die Krippe der Caritasgemeinde-Kinder im Klavierzimmer. Hier tummelt sich alles: Schnecken, Frösche, Klezmermusikanten, Kamele, Engel, Schneemänner, Piraten, – das pure Leben. Am Heiligen Abend wird dann sogar mein Büro zum Speiseraum. Der große Schreibtisch wird zum Esstisch. Der Mensch ist wichtiger als die Dinge.
Die Krippe ist ein treffliches Sinnbild für das, was die Mentergasse im Laufe der Jahre geworden ist. Ein Ort, an dem man in der Not zur Ruhe kommen kann. Ein vorübergehender Ankerplatz in einer stürmischen Zeit. Ein Ort, an dem man nicht allein ist und Zusammenhalt erfährt. Und ein Ort, an dem neues Leben geboren wird – inmitten einer seltsamen Mischung von Menschen, Wesen und Mächten – von Ochs und Esel bis zu den Engeln. Zwischendurch gelingt das Wunder der Menschwerdung.
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